Nachhilfe im Weißsein
Viele weiße Menschen in Deutschland haben sich bisher gar nicht damit auseinandergesetzt, dass sie Weiße sind, also auch zu einer besonderen gesellschaftlichen Gruppe gehören. Dass es dabei um Macht geht, bemerkt man anscheinend eher, wenn man einer Gruppe angehört, die auf eine Art benannt wird, die für sie nicht akzeptabel ist. Fremd-Definition ist auch Fremdbestimmung, und wer politisch korrekt oder ohne Diskriminierung bezeichnet werden will, muss sich auf einige Anstrengungen gefasst machen.Weiß sozialisierte Menschen wehren sich oft mit Zähnen und Klauen dagegen, als „Weiße“ bezeichnet zu werden. Sagen Sie mal laut: ‚Ich bin eine Weiße’, und auch: ‚Ich bin eine von diesen Weißen da’, und vervollständigen Sie: ‚Ich bin eine typische Weiße, weil …’
Merken Sie, dass Sie gar keine Lust darauf haben? Man könnte Sie ja mit all den anderen Weißen in eine Schublade stecken! Willkommen im Club.
Klar sind Sie ein Individuum. Und Sie werden auch so behandelt. Da sind Sie sehr froh drüber. Sie müssen sich jetzt aber mal ein Weilchen darauf einlassen, die Welt nicht mit Ihren Augen zu sehen und darauf zu bestehen, dass Ihr Blick der allgemeingültige sei. Wenn der Schleier der eigenen Wahrnehmung fällt, sieht Ihre Situation nämlich folgendermaßen aus: Sie sind verwöhnt. Sie sind mit einer Fülle von Privilegien geboren und aufgewachsen, die Sie als dermaßen selbstverständlich empfinden, dass Sie noch nicht mal wissen, dass sie existieren und welche das sind. Eines dieser Privilegien ist übrigens auch, dass Sie sich viele der Ihnen ‚angeborenen’ Vorteile selbst zunichte machen können, wenn Sie es drauf anlegen. Kommen Sie also nicht mit der Klage: ‚Zu mir sind die Leute aber auch unfreundlich!’, wenn Sie nicht gerne duschen und in Ihrer Jackentasche Camembert sammeln. Wenn Sie andererseits unverschuldet, beispielsweise aufgrund Ihrer sexuellen Orientierung, diskriminiert werden, dann ist das schlimm. Es bezieht sich aber auf etwas, das Sie nicht jedem zeigen müssen, wenn Sie nicht wollen. Sie könnten sich rein theoretisch als Hetero ausgeben oder gar nicht darüber sprechen.
Als weiße Deutsche haben Sie derzeit unter anderem von Geburt an die folgenden Privilegien:
- als Individuum betrachtet zu werden. als vollwertiges Mitglied der Bevölkerung betrachtet zu werden.
- nicht automatisch als ‚fremd’ betrachtet zu werden.
- nicht rechtfertigen zu müssen, weshalb Sie in Ihrem eigenen Land leben oder weshalb Sie überhaupt in Ihrer Form und Farbe existieren.
- sich und Ihre Gruppe selbst benennen zu dürfen.
- alle Menschen, die nicht weiß sind, benennen, einteilen und kategorisieren zu dürfen.
- dass Ihre Anwesenheit als normal und selbstverständlich betrachtet wird.
- sich benehmen zu können, als spiele Ihre eigene ethnische Zugehörigkeit keine Rolle.
- jede andere Kultur nachäffen oder sich in Teilen aneignen zu können, ohne dafür von der Mehrheitskultur ausgegrenzt zu werden (ausgelacht vielleicht … ausgegrenzt aber nicht).
- bestimmen zu dürfen, inwiefern die Errungenschaften und Meinungen aller Menschen, die nicht weiß sind, relevant sind, selbst wenn diese Menschen viel gebildeter sind als Sie.
- ohne die Möglichkeit aufzuwachsen, dass Sie rassistisch beleidigt werden können.
- in der Gesellschaft, in der Sie sich bewegen, öffentlich anonym bleiben zu können, wenn Sie wollen.
- nie darüber nachdenken zu müssen, ob Verdächtigungen oder Kontrollen vielleicht aufgrund Ihres vermeintlich anderen Aussehens erfolgen.
- Fremden Ihre Herkunft nicht erklären zu müssen.
- grundsätzlich ungehindert und unkontrolliert in die ganze Welt reisen zu können.
- auf Rassismus nicht reagieren zu müssen.
Wir verlangen, dass Flüchtlinge nicht allein aus wirtschaftlichen Interessen zu uns herüberkommen dürfen, sondern erst ihr eigenes Land auf die Reihe kriegen sollen. Gleichzeitig aber feiern wir in fünf verschiedenen Fernsehsendungen Weiße, die ohne guten Grund und ohne Kultur- oder Sprachkenntnisse in andere Länder gehen, weil sie sich davon mehr Wohlstand und ein glücklicheres Leben erhoffen. ‚Auswanderer’ und ‚Abenteurer’ nennen wir die dann und sind von ihrem Mut fasziniert. Sind sie aber Schwarz oder Afrikaner, sind Leute mit genau demselben Verhalten für uns plötzlich ‚Wirtschaftsflüchtlinge’ und ‚naiv’ und werden nicht als Helden oder mutig sondern als Bedrohung empfunden und dementsprechend behandelt. Und wir denken uns nicht einmal etwas dabei. […]
So erhält ein und dieselbe Sache verschiedene Namen, und wir erlauben uns dadurch auch verschiedene Betrachtungsweisen und Abstufungen von Sympathie, Mitgefühl, Respekt, Identifikation. Weil wir gelernt haben, dass wir das dürfen.
Dieses unterschiedliche Denken über dieselben Dinge, je nachdem, welche optischen ethnischen Merkmale die handelnden Personen haben, haben wir ebenfalls beigebracht bekommen. Dabei schwingt grundsätzlich folgende schlimme Ahnung mit: Weiße haben diese Privilegien nicht deswegen, weil jeder Mensch sie von Geburt an hat und man sie Leuten erst künstlich wegnehmen muss. Sondern Weiße haben diese Privilegien speziell weil dies naturgegeben und richtig sei. Weil sie Weiße sind. Viele denken heute noch so. Kein Wunder, denn diese größenwahnsinnige Sichtweise wird ja auch andauernd bestätigt, und man lernt so gut wie nirgends explizit das Gegenteil.
Weiße sind die, die allem einen Namen geben und die Welt einordnen dürfen. Wenn nicht sie, sondern jemand anders etwas entdeckt oder benannt hat, zählt es für sie gar nicht und wird so lange nicht akzeptiert, bis irgendein Weißer, egal ob er einen Plan hat oder nicht, etwas dazu gesagt hat. […]
Diese Art, sich ganz selbstverständlich als den Mittelpunkt des Universums zu sehen, hat zur Folge, dass die weißen europäischen Ansichten, historischen Figuren und Traditionen hierzulande als die einzig gültigen beziehungsweise wichtigen angesehen werden. Und weil dies selten infrage gestellt wird, denken viele Menschen in Deutschland tatsächlich, dies geschehe aus gutem Grund – und nicht etwa aus Größenwahn und Desinteresse.
Gekürzte Textauszüge aus
Noah Sow: Deutschland Schwarz Weiß
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Noah Sow: Deutschland Schwarz Weiß
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Weißsein im Selbstversuch – Das Vierzehn-Punkte-Programm
Wahrscheinlich ist Ihnen beim bisherigen Lesen an einigen Punkten Folgendes passiert:- 1)Sie haben sich gedacht: „Da kenne ich mich selbst sehr gut aus, da brauche ich jetzt bestimmt keine Belehrung.“
- 2)Sie haben sich gedacht: „Das ist so aber nicht ganz richtig.“
- 3)Sie haben einzelne Ihrer persönlichen Erfahrungen hinzugezogen, um sich zu vergewissern, dass das, was da steht, so nicht ganz stimmt.
- 4)Sie wurden ärgerlich.
- 5)Sie haben Ihren Ärger auf mein Buch (diese Website) projiziert, beziehungsweise auf meine Behauptungen.
- 6)Sie glauben, der Ärger komme nicht daher, dass Sie beurteilt und pauschal kritisiert werden, sondern von inhaltlichen Dingen.
- 7)Außerdem haben Sie an der Stelle, über die Sie sich aufgeregt haben, festgestellt, dass es „darum“ ja gar nicht geht.
- 8)Sie finden, dass jetzt mal dringend gesagt werden muss, dass Rassismus nicht bekämpft wird, indem man an Weißen herumnörgelt.
- 9)Überhaupt lehnen Sie es ab, so pauschal als „Weißer“ bezeichnet zu werden, weil Sie ja ein individueller Mensch sind und nicht wegen Ihrer Hautfarbe irgendeiner Gruppe zugeordnet werden können, und das soll respektiert werden.
- 10)Mit Rassisten lassen Sie sich nicht in einen Topf werfen, denn Sie sind keiner, das wissen Sie genau, und Sie müssen sich auch nicht fragen lassen, woher Sie das so genau wissen!
- 11)Sie sammeln Argumente, mit denen Sie möglichst bald beweisen können, dass das, was da steht, zum Teil die Tatsachen verdreht, am Thema vorbeigeht oder ungerecht ist.
- 12)Sie gehen davon aus, dass Sie Ahnung von dem Thema haben.
- 13)Sie glauben, dass Sie mehr Ahnung von dem Thema haben als die Autorin.
- 14)Und Sie wissen auch nicht, woher ich mir die Dreistigkeit herausnehme, Sie jetzt schon wieder einfach so zu beurteilen und zu tun, als würde ich Sie kennen.
Denn soeben konnten Sie für ein paar Sekunden in ein paar Zumutungen hineinschnuppern, die Schwarze Menschen in Deutschland in viel umfassenderer Form ständig erleben:
- Beurteilung aufgrund einer „Hautfarbe“.
- Ungefragte Zuordnung zu einer Gruppe.
- Gleichgültigkeit gegenüber dem, wie Sie sich selbst identifizieren.
- Die Annahme, man wisse, wer und wie Sie sind und wie Sie ticken.
- Anhaltende Beurteilungen sogar noch, nachdem Sie Ihren Unmut geäußert haben.
- Und die selbstverständliche Annahme, dass das Expertentum nicht bei Ihnen liegen kann.